Er nennt sie „Mam“
Seitdem begleitet die Lehrerin Ahmed und hilft ihm, Stück für Stück Fuß zu fassen. Und das ehrenamtlich.
Neu ist eine der Ehrenamtlichen, die sich in einem Projekt des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) in Bochum um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert. Die Religions- und Deutsch-Lehrerin Neu wollte parallel zur Schule und ein Jahr vor ihrer Pensionierung ihre fachliche Kompetenz auch außerhalb der Schule nutzen. Bei dem vom SkF organisierten Fest ahnte sie nicht, dass Ahmed seine Heimat ganz ohne Wissen seiner Mutter verließ.
Im August 2014 kam er aus Guinea in West-Afrika, einem der ärmsten Länder des Kontinents. Über Marokko und mit dem Boot nach Spanien kam er, nach langer Flucht in sein Wunschland Deutschland. Dabei spricht er Englisch statt Französisch, wie in der Heimat üblich. Gelernt hat er das von seiner Mutter. Über Fluchtgründe erzählt er selten. Nicht die Vergangenheit ist sein Ziel, sondern die Zukunft.
Als Westfalenliga-Fußballer bei Wattenscheid 09, der höchsten Jugendklasse für U17-Junioren, wohnte er zunächst mit 20 gleichaltrigen, alleinstehenden Flüchtlingen in einem früheren Gemeindeheim. Die Stadt sorgt nicht nur für die früher kirchlich genutzte Unterkunft, mehrere Sozialarbeiter begleiten die Jungs. Bei Neu, die ihn viermal wöchentlich zum Training fährt, darf er mit Erlaubnis des Vormunds jeweils vom Donnerstagabend bis zum Sonntag wohnen. "Für mich ist das ein Abenteuer, eine große menschliche Entwicklung", sagt die Frau, die neben dem Vollzeit-Job in der Schule auch ihre 93-jährige Mutter im Altenheim begleitet - und eben jetzt auch Ahmed. Rechtlich hilft ihr dabei die Aufgabenteilung mit Birgit Carduck als Vormund vom SkF (siehe Interview). "Ich bin froh, dass ich Carducks Erfahrung mit minderjährigen Flüchtlingen nutzen kann."
Neu gestaltet stattdessen Alltag und organisiert Schulbücher. Eine ehrenamtliche Mathe-Nachhilfe hat sie für Ahmed auch gefunden. Und erklärt im Alltag, was Lamm- oder Rindfleisch, eine tabellarische Stromrechnung, Musik von Grönemeyer oder eine Aufenthaltserlaubnis ist. Die 63-Jährige beobachtet, dass Ahmed Ziele für einen wie auch immer gearteten zukünftigen Berufsweg ehrgeizig in den Blick nimmt. "Parallel zu guten Noten an der Walter-Gropius-Berufsschule hat ihn nur der schwere Fragetest des Goethe-Instituts fertiggemacht." Die "Mam" hilft auch über solche Rückschläge hinweg, sagt Ahmed.
Warum Brigitte Neu mit dem Heranwachsenden bei Ämtern Stempel holt, sich mit ihm um kaputte Knie oder Sportschuhe kümmert und zugleich Alltags-Coach im Umgang mit Krankenkassen oder Behörden ist? Nach der Flucht aus Guinea will sie ihm Wege öffnen, dass er den ganz anderen Alltag in Deutschland besteht und neue Ziele anpeilt.
Ahmed träumt davon, in der Bundesliga spielen zu können. "Wenn Jugendliche wie er einmal bei uns sind, dann brauchen sie mit dem, was sie tun, Erwachsene wie Gleichaltrige, damit sie Fuß fassen", sagt Neu. "Fußball hilft da enorm, nur ich kann da nicht viel für ihn tun. Gut wäre ein engagierter Ex-Profi, ein sportkundiger Freund oder ein Rentner aus der Vereinsszene, der Ahmed besser als ich Wege für weitere sportliche Ziele öffnet."
Damit verbunden und noch entscheidender, weiß Neu, ist seine menschliche Entwicklung. "Dass alleinstehende Flüchtlinge, wenn Begleitung fehlt, im völlig fremden Land auch kriminell werden können, ist allen Beteiligten klar. Leider", ergänzt sie, "habe ich auch schon nette Jungs gesehen, die jetzt abgedriftet sind." Motivation für Neus Einsatz in der Arbeit mit minderjährigen Neuankömmlingen ist ebenso ihr Glaube wie der ganz andere Umgang der Lehrerin mit der eigenen Muttersprache Deutsch als in der Schule.
Die "Mam" will dem 17-Jährigen Möglichkeiten öffnen, unabhängig von Entscheidungen über sein Bleiberecht in Deutschland. Alltags-Erlebnisse, wie afrikanisch Kochen mit einem Freund aus der Flüchtlingsunterkunft in ihrer privaten Küche, zählen da wie Schul-Sprechstunden, Berufsperspektiven und eben der Sport dazu. "Aus Sicht der Stadt sollen ja volljährige Flüchtlinge möglichst nach einem Jahr in der Gruppenunterkunft schon eine eigene Wohnung beziehen." Ahmed wird, wenn das Jugendamt "Ja" sagt, dagegen aus dem Kinder- und Jugendheim, in dem er im Moment wohnt, ausziehen und im eigenen Zimmer bei Brigitte Neu wohnen. Der Antrag läuft.
Wie beide mit der Vergangenheit des 17-Jährigen umgehen? "Ich höre zu, wenn er erzählen will", sagt die engagierte Protestantin. Die Gründe für seine Flucht liegen immer noch eher im Nebel, in diesem Punkt ist der junge Mann trotz der guten Beziehung zurückhaltend. Die Alltags-Begleiterin nennt Schlagworte. "Da waren Streitereien mit Freunden, die mit Hilfe ihrer älteren, beim Militär arbeitenden Brüder Druck auf ihn ausübten. Dann ist da noch die Mutter, ohne deren Wissen sich Ahmed zur Flucht entschloss…." Vielleicht, überlegt Neu, könne es auch mit psychischen Dramen oder Belastungen zusammenhängen, dass der junge Mann morgens schon mehrmals ganz durchgeschwitzt aufstehe. Nachweisbar sei so etwas aber nicht.
Was bleibt für die Zukunft? Ahmed, der aus einem der ärmsten Länder Afrikas kommt, wo Medizin-, Wasser-, Bildungsnot und Mangelernährung herrschen und wo sein Alltag im Hüttendorf Vergangenheit ist, will auch beruflich Fuß fassen. Monate nach seiner Ankunft in Deutschland ist zurzeit ein Praktikum bei einer großen Klima- und Kühltechnik-Firma ein erster Schritt. Brigitte Neu denkt schon weiter. "Wenn der Praxis-Einstieg in die Arbeitswelt mit einem vorzeigbaren Berufsschulzeugnis klappt, kann er irgendwann für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen." Auch durch Integrationshilfen werde er nach und nach selbstbewusster und selbständig. Neu: "Nur so hat er eventuell die Chance, in Deutschland zu bleiben und dauerhaft ein zufriedenes Leben zu führen." (Text Ulrich Wilmes)