Interview mit Schlichter Bernd Andrick
Sie haben innerhalb von 20 Jahren Ihrer Tätigkeit als Leiter der Caritas-Schlichtungsstelle im Bistum Essen knapp 1.000 Verfahren geschlichtet. Diese hohe Zahl überrascht. Sind die Caritas-Mitarbeiter besonders streitlustig?
Bernd Andrick: Nein, davon kann nicht die Rede sein. Wenn man die Gesamtzahl der Verfahren auf die Jahre verteilt, sind es etwa 50 Verfahren pro Jahr. Bei einem Volumen von ca. 25000 Mitarbeitern in den caritativen Einrichtungen des Bistums Essen relativieren sich die Zahlen mithin. Hinzu kommt, dass nach der maßgeblichen AVR (Rechtsgrundlage der Schlichtungsstelle, d. Red.) die Schlichtungsstelle bereits bei "Meinungsverschiedenheiten" in der arbeitsrechtlichen Beziehung angerufen werden kann. Solche sind bereits anzunehmen, wenn man zu einer Rechtsfrage unterschiedlicher Auffassung ist, aber keineswegs die Anrufung des Arbeitsgerichts beabsichtigt.
90 Prozent der Fälle wurden erfolgreich gelöst. Wie definieren Sie denn "Erfolg" und sehen das die beteiligten Streitparteien auch so?
Bernd Andrick: Erfolg ist dann gegeben, wenn man eine Meinungsverschiedenheit gütlich beilegt. Er ist darin zu sehen, dass eine vergleichsweise Regelung getroffen wird oder sich die Schlichtungsstelle zu einer offenen Rechtsfrage positioniert und dies von den Parteien akzeptiert wird. Ein Erfolg kann aber auch darin erblickt werden, dass die Parteien, mit denen man in der Schlichtungsverhandlung keine Einigung erzielen konnte, sich auf der Grundlage der zunächst für gescheitert erklärten Schlichtung anschließend auf eine den Streit beendende Lösung verständigen.
Mit was für Nöten der Beschäftigten haben Sie zu tun? Unterscheiden sich die Beschwerden inhaltlich von denen in anderen Unternehmen?
Bernd Andrick: Die Meinungsverschiedenheiten betreffen den gesamten Bereich des arbeitsrechtlichen Lebens. Der Bogen reicht von den Kündigungen über Abmahnungen, Vergütungsfragen, Arbeitszeit bis hin zum Mobbing. Ein Unterschied zu anderen Unternehmen ist nicht zu sehen, weil sich die arbeitsrechtlichen Probleme in allen Bereichen des Arbeitslebens widerspiegeln.
Trotz Datenschutz: Was war der ungewöhnlichste Fall, an den Sie sich erinnern?
Bernd Andrick: Selten, dafür aber besonders signifikant sind Kündigungen auf der Führungsebene (etwa bei Chefärzten oder Geschäftsführern). Die vorgeworfenen Pflichtverletzungen sind nicht alltäglich, sondern fallen schon aus dem alltäglichen Rahmen heraus.
Gemeinhin bringt man den kirchlichen Bereich, also Caritas und Diakonie, nicht gleich mit arbeitsrechtlichen Streitigkeiten in Verbindung. Ein Trugschluss?
Bernd Andrick: Im caritativen wie im diakonischen Bereich findet sich ebenso wie etwa bei Gewerkschaften der Alltag des Arbeitsrechts. Insofern sind konfliktträchtige Sichtweisen zu arbeitsrechtlichen Fragen auch dort nicht ungewöhnlich.
Warum blickt die Öffentlichkeit hier genauer hin als andernorts? Und wie funktioniert die Schlichtung unter dem Brennglas?
Bernd Andrick: Gemeinhin besteht die Auffassung, im caritativen und diakonischen Bereich könne es wegen der diesen Institutionen innewohnenden "menschenfreundlichen" Wesensarten keine Konflikte geben. Zwar sind die Schmerzgrenzen der caritativen Einrichtungen mit Blick auf die Interessen der Beschäftigten regelmäßig großzügig; aber irgendwann werden auch sie überschritten mit der Folge arbeitsrechtlicher Reaktionen. In den Schlichtungsverhandlungen wird dann ausgelotet, wem bei Würdigung der unterschiedlichen Interessenlagen was zugemutet werden kann.
Verspüren Sie und Ihre Kollegen einen besonderen Druck, wenn etwa die Medien über die Streitfälle berichten?
Bernd Andrick: Da die Schlichtungsverhandlungen in nichtöffentlicher Sitzung stattfinden, gelangen ihre Inhalte nicht in die Öffentlichkeit. Insofern entsteht kein Druck. Ist darüber bereits vorab berichtet worden, ist das für die Schlichtungsstelle ein besonderer Anreiz, eine befriedende Lösung herbeizuführen. Die Schlichtungsstelle ist darüber hinaus bemüht, den jeweiligen Streit öffentlichkeitsfern zu halten, damit es nicht zu verzerrten Sichtweisen über die Caritas in der Öffentlichkeit kommt und die Institution dadurch in ihrer Reputation Schaden nimmt.
Oft lässt sich eine Kündigung gar nicht vermeiden. Wie vermeidet Ihre Schlichtung den Gang vor das Arbeitsgericht?
Bernd Andrick: In den meisten Fällen gelingt in der Schlichtungsverhandlung ein Vergleichsabschluss. Die Schlichtungsstelle investiert viel Zeit für eine Verhandlung und besitzt durch ihre beiden Beisitzer von der Dienstnehmer- und Dienstgeberseite die besonderen Fachkenntnisse zu den spezifischen Bereichen der caritativen Einrichtungen. Hierdurch erschließen sich fundiert die jeweiligen Probleme des Falles, die es durch einen interessengerechten Vergleichsvorschlag zu lösen gilt.
Was passiert, wenn die Schlichtung doch scheitert? Bleibt dann nur noch der Gang vor Gericht?
Bernd Andrick: Es kommt auf den jeweiligen Fall an. Das Scheitern der Schlichtungsverhandlung bedeutet nicht zwingend den Gang zum Arbeitsgericht. Aber manchmal findet er statt.