„Jau, wir mögen uns gut leiden!“
Sie kennen sich nicht, hatten nie etwas miteinander zu tun und doch vereint sie ein langes, schönes, aber auch hartes Leben. Jetzt im Alter haben sie auch eine direkte Gemeinsamkeit - sie stehen beide unter gesetzlicher Betreuung, können nicht mehr alle Dinge des täglichen Lebens alleine und selbstverantwortlich bewältigen.Ottilie S. (90) und Gerda Sch. (77) werden von zwei Frauen der Caritas-Sozialdienste (SkF und SkFM) in Bochum bzw. Wattenscheid ehrenamtlich betreut. Gemeinsame Erfahrung aller vier Frauen: "Wir sind vertraute Bekannte und kommen gut miteinander aus."
Ottilie S. und ihre ehrenamtliche Betreuerin Susanne Jortzik Alexander Richter
"Hallo, da bist Du ja. Wie gääht’s?" Ottilie S. begrüßt ihre Betreuerin mit einer flüchtigen Umarmung. Sie spricht ein hartes Deutsch, man hört, dass ihre Wiege irgendwo im Osten stand. "Sie kommt aus der Ukraine, lebt aber schon sehr lange in Deutschland", weiß Betreuerin Susanne Jortzik (56), während die alte Dame den Reporter anlächelt: "Sprichst Du auch Russisch? Gleich gibt’s Essen, Mama hat gekocht." Ottilie, die ihr langes ergrautes Haar als Zopf trägt, ist dement, verwechselt Dinge, hat Ereignisse aus ihrem Leben nicht mehr parat. Ihre Mutter ist lange tot und gekocht wird für sie im Mauritiusstift, einem katholischen Altenheim in Bochum-Mitte.
Seit 2005 muss Ottilie rechtlich betreut werden, erst vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), seit diesem Jahr ehrenamtlich durch Susanne Jortzik, von Beruf Beamtin. Sechs bis acht Stunden pro Monat ist sie für ihre alte Dame da, bei Bedarf länger. Was motiviert sie für dieses Ehrenamt? "Ich will Menschen helfen, die Hilfe brauchen", sagt sie, das "sich Kümmern" gebe auch ihr selbst viel, etwa "wenn das Dankeschön aus den Augen des Gegenüber" spricht. Frau Jortzik ist in ihrer Freizeit überaus aktiv, so dass ihr Sohn schon vor Jahren meinte: "Mutti, Du hast doch selbst so wenig Zeit für Dich…" Sie, die ihre Mutter früh verloren hat, sagt dazu: "Ich kann nicht anders, ich bin eben so, zur Not mache ich die Hausarbeit nachts um Mitternacht…" Deshalb habe sie sich auch bei einer Werbeaktion der Betreuungsvereine in Bochum gemeldet.
Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW sind es etwa 300.000 Menschen, für die eine Betreuung eingerichtet wurde (Daten aus 2013, Quelle: Bundesamt für Justiz). Rund 200 Betreuungsvereine (auch von der Caritas) stehen dafür zwischen Rhein und Weser zur Verfügung. Im Bistum Essen sind es acht katholische Vereine, die die Interessen ihrer Klienten vertreten. Der Anteil derer, die von Familienmitgliedern betreut werden, sinkt seit einigen Jahren kontinuierlich von etwa 60 % (2008) auf knapp 54 Prozent 2013. Damit steigt der Bedarf an Betreuungsvereinen und selbständigen Berufsbetreuern. Die Arbeit der Betreuer erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und je nach Erkrankung des Betreuten auch die Fähigkeit, einzustecken und "mal alle Viere gerade sein zu lassen". Hauptberufliche haben oftmals 40 und mehr Klienten gleichzeitig zu vertreten, wobei hier der persönliche Kontakt zu kurz kommen muss und nur eine Art "Betreuungsverwaltung" möglich ist. Diese wird zudem noch schlecht bezahlt. Die Politik muss auch hier die Frage beantworten, wie viel Betreuung sich der Sozialstaat Deutschland leisten will (und kann). So fordern die Betreuungsvereine eine Anhebung der seit 2005 unveränderten Vergütungssätze.
Zurück nach Bochum: Was macht eigentlich eine ehrenamtliche Betreuerin in der Praxis? Sie gibt z.B. Ottilie die nötige Zuwendung, die ihr der eigene Sohn, nicht gibt. Susanne Jortzik hört einfach nur zu, geht mit Ottilie Kleinigkeiten einkaufen, verwaltet ihr Taschengeldkonto (die Rente geht direkt ans Heim) und ist einfach für sie da. Zum Beispiel beim gemeinsamen Betrachten von alten Fotos. Ihren Ehemann, der mit ihr zusammen ins Heim kam, aber vor ein paar Jahren verstarb, erkennt sie nicht, vielleicht will sie ihn nicht erkennen. "Das ist mein Bruder", sagt sie.
Ottilie ist körperlich ganz gut beieinander und hin und wieder funktioniert auch die Erinnerung noch, etwa wenn sie ans Tanzen denkt. "Da habe ich als junges Mädchen so gerne die Hopsa-Polka getanzt, das war schön", erzählt sie und singt dazu und schwingt die Arme und ist guter Dinge. Minuten später weiß sie nicht mehr wie alt sie ist. "Ich bin 38, das Tanzen war am Sonntag", meint sie. Die Betreuerin hat sich auf "die abrupten Sprünge" eingestellt und kommt damit klar. "Nicht jede Ehrenamtliche kann jede Betreuung führen", weiß Diplom-Sozialarbeiterin Monika Pistner vom SkF Bochum, die die "Kombination Ottilie S. /Jortzik" zusammengebracht hat. Der SkF ist froh und glücklich über jede/n Ehrenamtliche/n Betreuer/in und bietet kostenlos Fortbildungen, einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch, persönliche Beratung und als eine Art dankender Anerkennung - gesellige Feste und Ausflüge an.
Gerda Sch. Und ihre Betreuerin Monika Ishar Alexander Richter
Szenenwechsel: In Bochum-Wattenscheid, hart an der Grenze zu Ückendorf, lebt Gerda Sch. in einem arg grauen Mietshaus. Abgewohntes Treppenhaus, ein Kohleofen beheizt die kleine Wohnung, an der Wand hängen vergilbte Fotos ihrer Familie. Gerda war zu Hause nie die Hauptperson, Bruder Max, der bei der Bundesmarine Karriere machen wollte, war der Sonnenschein der Familie. Als der Bruder bei einem Autounfall ums Leben kam, sagte die erblindete Mutter zu ihr: "Du bist jetzt mein Mäxchen, du musst für mich sehen und du kannst ja auch nicht alleine leben." Gerda, die heute alleine lebt, hatte nie gelernt, selbständig zu entscheiden, putzte hier, war Hausmädchen da. Mit den Jahren wurde sie depressiv, wurde entmündigt und später unter Betreuung gestellt. Erst blieb diese in der Familie, bevor dann Monika Ishar (53), Rechtsanwältin und vierfache Mutter, über den SKFM Wattenscheid eingeschaltet wurde. Ein Gutachter hatte gemeint: "Es ist gut für Frau Sch., wenn die Betreuung mal von außen kommt."
Die beiden Frauen haben sich aneinander gewöhnt, "ich musste ihr Vertrauen gewinnen, das hat gedauert und war schon eine Herausforderung", sagte sie und ist in der Regel vier Stunden/Monat persönlich für ihre Betreute da. Dann gehen sie einkaufen in Wattenscheid und zur Bank. Frau Sch. verwaltet ihr Konto selbst, "sie ist lange unterschätzt worden", weiß Frau Ishar. Zusätzlich kümmere sich an fünf Tagen/Woche ein Pflegedienst und zweimal eine Haushaltshilfe um Gerda, die einen so traurigen Blick hat. "Wir mögen uns gut leiden", sagt die Betreuerin. "Jau", nickt Gerda mit dem Kopf, "dat is so." (Alexander Richter)
Infos:
Wer eine ehrenamtliche Betreuung übernehmen will, kann sich gerne an Hubertus Strippel von der Caritas im Bistum Essen wenden.
Tel: 0201 81028-125, hubertus.strippel@caritas-essen.de