Am 24. Februar ist es ein Jahr her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Die Menschen waren schockiert und betroffen, viele haben spontan geholfen: Geld und Sachspenden gesammelt, ihre Wohnung geteilt, Hilfsangebote vor Ort auf die Beine gestellt. Neben den Aufgaben in der Geflüchteten- und Katastrophenhilfe gab es auch bei der Caritas viele Menschen, die sich für den Frieden engagiert und die Menschen in der Ukraine spontan unterstützt haben.
Nadine Lashuk, ausgebildete Osteuropawissenschaftlerin und beim Caritasverband für das Bistum Essen Referentin für Fördermittel und Klimaschutz, hat einige Jahre in Belarus gelebt. Mit ihrem Netzwerk vor Ort und den Sprachkenntnissen konnte sie direkt von Beginn des Krieges an Menschen in der Ukraine und anschließend Geflüchteten in Essen helfen. Die Essenerin engagierte sich ehrenamtlich bei der Ukrainehilfe der cse. Die cse ist der Zusammenschluss von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen in Essen. Ein Interview:
Erinnern Sie sich noch an den Beginn des Ukraine Krieges, was ging Ihnen damals als erstes durch den Kopf?
Der Morgen des 24. Februar 2022 ist einer dieser Tage, bei dem alle in meinem Bekanntenkreis genau wissen, was sie in dem Moment getan haben, als sie von dem Überfall Russlands auf die Ukraine gehört haben. Ich habe früh morgens die ukrainischen Nachrichten gelesen und war unglaublich schockiert. Wie die meisten Menschen hatte ich es bis Mitte Februar für ausgeschlossen gehalten, dass Putin tatsächlich einen Krieg beginnen würde. Sofort gingen meine Gedanken zu meiner Schwiegerfamilie nach Belarus - die Sorge, dass Belarus in diesen Krieg tiefer und tiefer hineingezogen werden könnte und welche Folgen das für unsere Freunde und Verwandten hätte, begleitet mich seitdem.
Sie haben sich ehrenamtlich bei der Caritas in der Ukraine-Hilfe engagiert. Was hat den Menschen, den Geflüchteten hier oder den Menschen in der Ukraine, am meisten geholfen?
Das Gefühl der Ohnmacht und der Angst vor einem Krieg in Europa wich schnell dem Wunsch, zu helfen. Ich kenne viele Leute vor Ort, spreche Russisch und Ukrainisch und war sehr froh, die Ukraine-Hilfe der Caritas ehrenamtlich unterstützen zu können. Der Krisenstab des Essener Caritas-Ortsverbandes hat sich schnell formiert. In den ersten Tagen konnte ich besonders dadurch helfen, dass ich in meinen Social Media Feeds Berichte und Aufrufe aus der Ukraine lesen, übersetzen und weitergeben konnte. Mich haben Hilferufe von Menschen in umkämpften Städten erreicht, die ich dann an die Caritas vor Ort in der Ukraine verweisen konnte. Außerdem gab es immer wieder Listen mit Medikamenten, die in den Krankenhäusern gebraucht wurden.
Hilfsgüter, wie Lebensmittel, in die Ukraine zu bringen, war in den ersten Tagen schwierig. Gleichzeitig wurden hier in Essen sehr schnell Möglichkeiten geschaffen, die Geflüchteten in Empfang zu nehmen und unterzubringen. Ich habe versucht, da zu helfen, wo ich mit meinen Sprachkenntnissen nützlich sein konnte, zum Beispiel dabei, Unterkünfte zu finden und einige Familien enger zu begleiten. Das war sehr emotional - denn auf auf einmal wurde aus einer Nachricht in der Tageszeitung das Schicksal einer Familie, die bis vor kurzem ein Leben geführt hatte, das unserem sehr ähnlich war. Sie unterzubringen, zu versorgen, ihnen die ersten Schritte hier in unserer Stadt zu zeigen, Schulplätze für die Kinder zu finden und vor allem die Geschichte ihrer Flucht zu hören und die Sorgen um die Daheimgebliebenen, das hat das letzte Jahr geprägt. Jeder bringt seine eigene Geschichte mit. Tatsächlich hätte ich mir eine Art Supervision für Ehrenamtliche gewünscht, um über meine Erfahrungen zu sprechen.
In unserer Pfarrei ist ein ganz tolles Hilfsnetzwerk entstanden: Neben einer Kleiderkammer gibt es wöchentliche Treffen, eine Hausaufgabenbetreuung und eine Einbindung ins Gemeindeleben. Hier kann ich immer mal wieder mit Übersetzungen und Vernetzungen helfen. Die Familien vermissen natürlich ihre Heimat schmerzlich, aber sie sind so gut wie möglich angekommen. Aus meiner Sicht sind die Unterstützung der Menschen und die Solidarität das Wichtigste für die Menschen: Sowohl für jene, die in der Ukraine sind und dort unter schwierigen Bedingungen leben, als auch für jene, die bei uns Schutz gesucht haben. Zu wissen, dass sie nicht alleine sind, das gibt ihnen Kraft, diese schlimme Zeit durchzustehen - hier als Geflüchtete fern der Heimat, meist ohne ihre Ehemänner und Väter, und in der Ukraine, wo tägliche Luftalarme und Versorgungsprobleme mittlerweile zum Alltag gehören. Dass diese Unterstützung auch nach einem Jahr noch andauert, ist für sie sehr wertvoll.
Zur Situation der Ukrainer hier: Was treibt sie um, was brauchen sie?
Die ukrainischen Familien, mit denen ich spreche, sind unglaublich dankbar für alles, was hier in Deutschland für sie getan wurde. Die Hilfe der Ehrenamtlichen, die sie aufgenommen und begleitet haben, der Lehrkräfte, die sich um die ukrainischen Kinder bemühen, all die Angebote, die gemacht werden.
Viele kämpfen mit Heimweh, gerade die Kinder, von denen viele sehr bewusst mitbekommen, was passiert. Die meisten dachten, sie würden hier nur kurz Zuflucht brauchen und verstehen nun, dass es dauern kann, bis sie zurückkehren können. Bei der Integration in die Schulen sehe ich ein strukturelles Problem: Während die Kinder in den weiterführenden Schulen in Willkommensklassen unterrichtet werden und Deutschunterricht haben, besuchen ukrainische Grundschulkinder Regelklassen. Aufgrund der Personalsituation an den Grundschulen ist Deutsch als Fremdsprache nur in geringem Umfang oder gar nicht möglich. Das erschwert es den Kindern, schnell gut Deutsch zu lernen. Hier sollte Abhilfe geschaffen werden. Dasselbe gilt für den Deutschunterricht für Frauen mit Kindern: Es mangelt an Deutschkursen mit Kinderbetreuung.
Die Fragen stellte Christoph Grätz.