In einem gemeinsamen offenen Brief an Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsident*innen bekräftigen 309 Organisationen - von lokalen Initiativen der Flüchtlingshilfe bis hin zu bundesweiten Organisationen -, dass sie zu einer Gesellschaft gehören wollen, die fliehende Menschen menschenwürdig aufnimmt. Kurz vor deren Treffen fordert das Bündnis den Bundeskanzler und die Ministerpräsident*innen auf, die Auslagerung von Asylverfahren klar abzulehnen und sich stattdessen gemeinsam mit der Zivilgesellschaft für eine zukunftsfähige Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland stark zu machen.
Am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, werden Bundeskanzler Olaf Scholz und die Ministerpräsident*innen während ihrer gemeinsamen Tagung über eine mögliche Auslagerung von Asylverfahren diskutieren. Das Bundesinnenministerium wird einen Sachstandsbericht zu einem Prüfauftrag vorlegen, der bei Bund-Länder-Beratungen im November 2023 beschlossen wurde.
Die Organisationen warnen vor der Auslagerung von Asylverfahren. Bisherige Versuche zeigen, dass sie zu mehr Leid bei den Betroffenen und Menschenrechtsverletzungen führen, nicht funktionieren und extrem teuer sind. Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht Vielfalt, Offenheit und ein konsequentes Einstehen für die Menschenrechte für alle, so das Bündnis.
Dr. Frank Johannes Hensel, Sprecher der Caritasdirektoren in Nordrhein-Westfalen, erklärt für die Caritas in NRW
"Menschen, die auf ihrer Flucht in Europa ankommen, nach Ruanda oder in andere Drittstaaten zu bringen, um dort ein Asylverfahren zu durchlaufen, dient der gezielten Umgehung europäischer Normen und Standards. Dieser politische Versuch, die Geflüchteten aus dem Land und dem Blick zu nehmen, schwächt den in der Verfassung grundgelegten Anspruch auf eine menschenwürdige Behandlung und Rechtssicherheit. Sollte diese Politik Realität werden, verspielt Europa viel Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte. Zudem besteht gewichtige Skepsis, wie in den ausgewählten Staaten in Afrika und Asien, faire und effiziente Asylverfahren gewährleistet werden können. Auch bleibt völlig ungeregelt, wohin die Menschen dann weiterziehen sollen, wenn vor Ort kein Asylrecht zugesprochen wird. Diese angedachte Verfahrensweise ist teuer, ineffizient, gefährdet grundlegende Menschenrechte und belastet die Zivilgesellschaft anderer Länder erheblich. Deswegen unterstützt die Caritas in NRW die Initiative von über 300 Organisationen, die Auslagerung von Asylverfahren klar abzulehnen und sich stattdessen für eine Zukunft mit effizienten und rechtssichere Aufnahmeverfahren in Europa und damit auch in Deutschland stark zu machen."
Das Bündnis wurde initiiert von PRO ASYL, dem Paritätischen Gesamtverband, Ärzte ohne Grenzen, Brot für die Welt, Diakonie Deutschland und Amnesty International. Der offene Brief mit den unterzeichnenden Organisationen ist hier zu finden.
Der offene Brief von über 300 Organisationen im Wortlaut:
Menschen schützen statt Asylverfahren auslagern
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten,
Menschlichkeit ist sowohl in Deutschland als auch in Europa die Basis unseres Zusammenlebens. Sie zu schützen ist unsere gesellschaftliche Pflicht. Dazu gehört auch: Die unbedingte Achtung der Menschenwürde. Sie steht aus gutem Grund seit 75 Jahren in unserem Grundgesetz und gilt für alle Menschen, egal woher sie kommen.
Ausgerechnet am Weltflüchtlingstag beraten Sie die Idee der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes aus Deutschland und Europa in Drittstaaten. Wir, 309 Organisationen und Initiativen, möchten Teil einer Gesellschaft sein, die geflüchtete Menschen menschenwürdig aufnimmt. Wer Schutz bei uns in Deutschland sucht, soll ihn auch hier bekommen. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht.
Bitte erteilen Sie Plänen zur Auslagerung von Asylverfahren eine klare Absage.
Als im Flüchtlingsschutz aktive Organisationen und Initiativen wissen wir: Aufnahme und Teilhabe funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen und der politische Wille vorhanden ist. Vor den derzeitigen Herausforderungen verschließen wir dabei nicht die Augen. Wir begegnen ihnen vielmehr mit konstruktiven, praxisnahen und somit tatsächlich realistischen Vorschlägen für eine zukunftsfähige Aufnahme. Dafür setzen wir uns jetzt und auch zukünftig mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften ein - gerade auch auf kommunaler Ebene.
Pläne, Flüchtlinge in außereuropäische Drittstaaten abzuschieben oder Asylverfahren außerhalb der EU durchzuführen, funktionieren hingegen in der Praxis nicht, sind extrem teuer und stellen eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit dar. Sie würden absehbar zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen, wie pauschale Inhaftierung oder dass Menschen in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen menschenunwürdige Behandlung oder Verfolgung drohen. Bei Geflüchteten lösen solche Vorhaben oft große Angst aus und erhöhen die Gefahr von Selbstverletzungen und Suiziden. Dies gilt gerade für besonders schutzbedürftige Geflüchtete wie Menschen mit Behinderung, Kinder, queere Menschen, Überlebende von Folter oder sexualisierter Gewalt. Das zeigen uns die Erfahrungen der letzten Jahre, etwa das Elend auf den griechischen Inseln als Folge der EU-Türkei-Erklärung.
Aktuell leben drei Viertel der geflüchteten Menschen weltweit in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Setzen Sie sich deswegen für eine glaubhafte, nachhaltige und gerechte globale Verantwortungsteilung im Flüchtlingsschutz ein.
Wir sind uns sicher: Realistische und menschenrechtsbasierte Politik stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass Anfang des Jahres so viele Menschen wie noch nie in Deutschland auf die Straße gegangen sind, um ein Zeichen für eine offene und diverse Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus zu setzen, macht uns Mut. Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht Vielfalt, Offenheit und ein konsequentes Einstehen für Menschenrechte - für alle.