Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat einen Gesetzesentwurf angekündigt, bei dem die sogenannte stambulante Versorgung als dritte Säule neben der ambulanten und der stationären Versorgung stehen soll. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus stationärer und ambulanter Pflege, die Menschen im Blick hat, die es einerseits noch ablehnen, in eine Altenhilfeeinrichtung zu ziehen, andererseits jedoch auch nicht mehr selbstständig in der eigenen Wohnung leben können. Im "stambulanten Sinne" bedeutet das, in einer altersgerechten Wohnung - unabhängig vom Pflegegrad - rund um die Uhr Pflege in Anspruch nehmen zu können, aber nicht zu müssen.
Praktiker beurteilen das Vorhaben sehr unterschiedlich. Allen ist jedoch klar, es muss eine Veränderung her. Ob dieses Konzept die bahnbrechende Idee ist, diskutierten am Montag. 8. Juli, beim Caritasverband für das Bistum Essen fast 80 Pflegewissenschaftler und Fachleute aus der Pflegepraxis mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann.
Stefanie Siebelhoff, Direktorin des Caritasverbandes für das Bistum Essen, skizziert die Herausforderungen in der Pflege: "Die Entwicklung auf dem Pflegemarkt in NRW ist besorgniserregend. Der stark steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen steht eine immer geringere Zahl an Fachkräften gegenüber. Der Arbeitsmarkt in diesem Sektor ist leergefegt. Um unter diesen Voraussetzungen unsere pflegebedürftigen Menschen auch in Zukunft versorgen zu können, müssen wir eine Diskussion um die benötigten Kompetenzen und Qualifizierungen führen. In multiprofessionellen Teams muss nicht jeder alles können. Auch die Einbindung von Angehörigen und anderen Netzwerken in Pflegeprozesse und in die Betreuung wird dabei ein wichtiger Aspekt sein. Entscheidend ist, dass die Qualität der Pflege gewährleistet bleibt. Deswegen begrüßen wir innovative Ideen wie die sogenannte stambulante Versorgung. Wir sollten diese Ansätze sorgfältig prüfen, erproben und bei Erfolg gesetzlich verankern."
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann stellt die Leistungen der Pflegeversicherung, die im kommenden Jahr 30 Jahre alt wird, auf den Prüfstand und empfiehlt eine kritische Bewertung des Systems. Er sieht eine finanzielle Schräglage im Pflegesystem und fordert eine Aufwertung der häuslichen gegenüber der stationären Pflege. Die häusliche Pflege müsse nicht notwendigerweise nur durch Angehörige geschehen, sondern eben auch durch Freunde und Nachbarn. Der Minister sieht eine Lösung in der engeren Verwebung der beiden Säulen häusliche und stationäre Pflege. Er fordert außerdem mehr Souveränität für Pflegefamilien, die die Schwerpunkte der Versorgung stärker als bisher selbst setzen sollten, denn die Betroffenen seien die Experten für ihre Belange. So setzt der Minister auf eine Pauschalierung des Systems, die Betroffenen die Möglichkeit biete, die Pflege eigenverantwortlich zu planen. Eine Option sei eine Art Vollversicherung, die es Pflegefamilien ermögliche, mittels eines Budgets Pflegeleistungen "einzukaufen". Außerdem fordert Laumann bessere Freistellungsmöglichkeiten für Pflegende und eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Angesichts der Hochaltrigkeit der Menschen sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass zunehmend noch Erwerbstätige erleben, dass ihre Eltern pflegebedürftig werden. Der Minister lehnt eine weitere Säule neben der stationären und der ambulanten Versorgung ab, was der Idee "stambulant" und den Plänen Lauterbachs entgegensteht.
Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen teilt zwar die Problemanalyse von Bundesgesundheitsminister Lauterbach, sieht bei dem geplanten Modell aber Abgrenzungs- und Abrechnungsprobleme. Der Pflegeexperte empfiehlt, die Unterscheidung zwischen stationärer und ambulanter Pflege ganz aufzuheben. Bei dieser sektorfreien Versorgung hätten Pflegebedürftige die Möglichkeit, Leistungen - unabhängig von ihrer Wohnform - modular dazuzubuchen. Die Abrechnung müsse nach einheitlichen Regeln erfolgen.
Kaspar Pfister, geschäftsführender Gesellschafter der BeneVit Gruppe, sieht in diesem Konzept große Vorteile. Die BeneVit Gruppe realisiert in einer baden-württembergischen Einrichtung bereits seit acht Jahren ein Modellprojekt "stambulant". Erfahrungen aus dem "Mitmach-Pflegeheim" zeigten deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, eine bessere Gesundheitsförderung der Bewohnerinnen und Bewohner sowie eine individuellere Betreuung bei gleichzeitiger Kostensenkung.
Engagierte Diskussion auf dem Podium
Auf dem Podium am Nachmittag diskutierten Expertinnen und Experten des Caritas-Netzwerkes über das stambulante Pflegekonzept: Dirk Hertling (Stiftungsvorstand der Theresia-Albers-Stiftung, Hattingen), Wolfgang Meyer (Vorstand Sozialwerk St. Georg, Gelsenkirchen), Markus Kampling (Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Katholischen Pflegehilfe, Essen) und Beate Thiehoff (Ehem. Leitung Seniorenzentrum St. Hedwig und Emmaus-Hospiz St. Hedwig, Gelsenkirchen).