Angesichts ausgelasteter Intensivstationen fordern Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Unterstützer eine öffentliche Debatte darüber, welches Leben im Konfliktfall vorrangig zu retten ist. Die Entscheidung liege nicht allein in der Hand der Ärzte. Der Gesetzgeber müsse hier zwingend tätig werden.
Vier Menschen auf einem sinkenden Boot, das rettende Ufer können nur zwei erreichen. Der alte Mann, die schwangere Frau, das schwerbehinderte Vorschulkind, die Managerin: Wer muss weichen? Vor einem solchen Konflikt stehen im Ernstfall die Teams der Intensivstationen. Triage heißt das Schreckgespenst des COVID-19-Katastrophenfalls - Behandlungsentscheidungen so zu treffen, dass möglichst viele überleben.
"Die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der Gesundheitsversorgung spitzt sich in der Corona-Pandemie erkennbar zu", kritisiert Maria del Pilar Andrino, ärztliche Leiterin des Gesundheitszentrums des Franz Sales Hauses, einer Einrichtung der Behindertenhilfe für rund 2.400 Menschen an über 40 Standorten in Essen und Bochum. Einen Grund für diese Benachteiligung sieht Andrino darin, dass die Behandlung von Menschen mit schweren und komplexen Beeinträchtigungen häufig überdurchschnittlich aufwändig sei und nur unzulänglich vergütet werde. Ein Beispiel: Eine 30-jährige Krebspatientin mit geistiger Behinderung erhielt während der Lockdown-Phase im Frühjahr keinen Platz im Krankenhaus, weil eine Begleitperson hätte mitaufgenommen werden müssen.
Besonders verletzliche Patientengruppen erfordern mehr Aufmerksamkeit - nicht weniger
"Neben dem ärztlichen Berufsethos verbietet eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen eine solche Benachteiligung, darunter das Grundgesetz und die UN Behindertenrechtskonvention", so Andrino, "gerade weil eine Reihe gesundheitssystemimmanenter Faktoren als Barrieren einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung wirken, sind Ärztinnen und Ärzte gefordert, ihre Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung und andere besonders verletzliche Patientengruppen zu schärfen."
Zwar hält Deutschland im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich viele Intensivbetten bereit, diese sind dennoch zunehmend ausgelastet oder mangels Personal nicht einsetzbar. Wenn der Platz knapp wird, entscheiden Ärzte derzeit nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, wer einen Platz auf der Intensivstation erhält. Das bedeutet, dass diejenigen mit den besten Aussichten auf Genesung zuerst Hilfe bekommen und nicht die Menschen, die sie am nötigsten brauchen. Das Gleichheitsgebot fordert zwar von den Ärzten, dass die Festlegung einer Rangfolge nicht aufgrund des Alters, sozialer Merkmale, Grunderkrankungen oder Behinderungen der Patienten erfolgen darf. Allgemeine Gebrechlichkeit, Organschwäche oder gleichzeitiges Auftreten mehrerer chronischer Erkrankungen gehören aber ebenfalls zum Kriterienkatalog, um eine bessere oder schlechtere Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung festzustellen.
Klage beim Bundesverfassungsgericht - "Der Gesetzgeber muss handeln"
Bislang entscheiden also die ärztlichen Fachgesellschaften über die Kriterien der Triage. Einige Menschen mit Behinderungen haben sich deshalb jetzt an das Bundesverfassungsgericht gewandt, weil sie die Rechtmäßigkeit und Eignung dieser Kriterien in Frage stellen. Weder Alter noch Behinderungen seien grundsätzlich mit schlechteren Chancen verbunden. Der Gesetzgeber müsse hier tätig werden, so die Forderung. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht und Gesundheitsminister Jens Spahn lehnen jedoch derzeit ein Triage-Gesetz ab und setzen stattdessen auf die medizinische Vernunft der ärztlichen Entscheider.
"Die Priorisierung ist keine alleinige Entscheidung durch die behandelnden Ärzte nach medizinischen Erwägungen, da es in letzter Instanz um das Recht auf Leben geht. Insofern sollte der Gesetzgeber allgemeine und transparente Bewertungskriterien - wie in vielen anderen medizinischen Themen auch - für den Fall einer Triage aufstellen. Diese sind in der ärztlichen Einzelfallentscheidung heranzuziehen, so dass am Ende eine gesetzliche Basis sowohl für den Patienten, als auch für den handelnden Arzt gegeben wäre.", mahnt Andrino an.
Unterstützung erhalten die Kläger auch vom Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie: "Die Entscheidung über Leben oder Tod darf nicht einzelnen Medizinern und Medizinerinnen oder medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden. Vielmehr muss der Gesetzgeber in einer so wesentlichen Grundrechtsfrage endlich aktiv werden und darf nicht länger schweigen." Der Verband fordert ein die Bundesregierung beratendes fachübergreifendes COVID-19-Expertengremium. Dies solle, ähnlich dem kanadischen Vorbild, auch mit behinderten Experten von Selbstvertretungsorganisationen besetzt werden.
Zum Hintergrund:
Dr. Maria Andrino, Kinderärztin und Genetikerin, ist Leiterin der Task Force Gesundheit der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP) und Leiterin des Gesundheitszentrums Franz-Sales-Haus. Sie ist zudem Vorstandsvorsitzende im Bündnis des Gesundheitssystems der Stadt Essen "EssenGesundVernetzt - Medizinische Gesellschaft e.V." und Vorstandsmitglied bei MedEcon Ruhr e.V., einem Verbund der Gesundheitswirtschaft des Ruhrgebietes.
Sie hat jüngst an einem Werkstattgespräch zu dem Thema Triage bei der Konrad Adenauer Stiftung teilgenommen, an dem auch die Verantwortlichen der in der Kritik stehenden Vereinigung DIVI beteiligt waren.
Rückfragen beantwortet: Hubertus Strippel, Tel. 0201 810 28-125, hubertus.strippel@caritas-essen.de
Cordula Spangenberg