"In dem Augenblick, als die Taliban in Kabul einmarschiert sind, herrschte ein riesiges Chaos auf den Straßen. Die Menschen waren voller Angst und verwirrt und rannten weg. In ganz Kabul war Stau. Wir wurden von den Ereignissen überrascht. Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass die Taliban zurückkehren und die Macht übernehmen. Ich selbst bin, wie viele andere, sofort zur Bank gelaufen, um mein Erspartes abzuheben."
Weltbankprojekt förderte Frauen
Parwin erinnert sich gut an diesen 15. August 2021. "In meinem Bekanntenkreis in Afghanistan gibt es niemanden, der nicht weiß, was er an diesem Tag gemacht hat", sagt sie. Die 32-Jährige arbeitete damals für ein Projekt der Weltbank, das Landbesitz legalisierte. Dabei sei insbesondere darauf geachtet worden, bei Ehepaaren mit Landbesitz auch den Namen der Frau zu beurkunden, was in Afghanistan nicht üblich sei, sagt Parwin: "Wenn Paare sich trennen, stehen die Frauen in der Regel ohne finanzielle Absicherung vor dem Nichts." Wenn die Ehefrau jedoch als Besitzerin mit eingetragen sei, habe sie ein Recht auf ihren Anteil.
Parwin Adabyar (32) vor einem Foto, das sie als Mitarbeiterin eines Weltbank-Projekts in Afghanistan zeigt. Das Projekt hatte zum Ziel, die Rechte von Frauen bei der Legalisierung von Landbesitz zu stärken. Foto: Caritas | Christoph GrätzCaritas | Christoph Grätz
Für Parwin ist die Förderung von Mädchen und Frauen eine Herzensangelegenheit. Geboren ist sie als eines von neun Geschwistern in Masar-e Scharif, der viertgrößten Stadt Afghanistans, im Norden des Landes. "Ich habe fünf Schwestern und drei Brüder", erzählt sie, "und meine Mutter hat uns immer unterstützt, dass wir zur Schule gehen und lernen - selbstverständlich auch die Mädchen." In Afghanistan werden Kinder üblicherweise mit sechs Jahren eingeschult. Die staatlichen Schulen und Unis sind kostenlos. Bildung habe in Afghanistan einen hohen Stellenwert, betont Parwin, die selbst Wirtschaftswissenschaften studiert hat: "Den meisten Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder zur Schule gehen und studieren."
Flucht über Pakistan nach Deutschland
Für das Weltbankprojekt hat Parwin das Controlling gemacht und Berichte geschrieben. Aber am 15. August 2021, war die Arbeit abrupt zu Ende. Sämtliche Projekte seien beendet worden. "Das war ein Schock", erinnert sie sich, "wir wussten nicht, was passieren würde. Der Präsident war bereits geflohen." Sie könne nicht beschreiben, was sie damals gefühlt habe.
Parwins Mann Ahmad arbeitete im Augst 2021 für die afghanische Regierung. Dass die Taliban Kabul erobert hatten, erfuhr er von seinem Mitarbeiter: "Ich konnte das erst gar nicht glauben. Aber dann haben wir beschlossen, dass es das Sicherste ist, nach Hause zu fahren und dort zu bleiben. Als wir dann mit dem Dienstfahrzeug der Regierung auf dem Rückweg waren, sagte mein Fahrer: ‚Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Vielleicht steigst Du lieber aus und gehst zu Fuß nach Hause.‘."
Danach begann eine schwierige Zeit, an die sich Parwin nicht gern zurückerinnert. Zwei Wochen später hatten die letzten ausländischen Truppen das Land verlassen. Über den Luftweg kam niemand mehr aus Afghanistan raus, aber viele Menschen versuchten, über den Landweg nach Pakistan zu fliehen. "Darüber haben wir auch nachgedacht, aber ich war schwanger und habe mir das nicht zugetraut." Auch für Ahmad kam das nicht in Frage: "Wir hatten so viel Angst. Einen Monat lang wachten wir jeden Morgen auf und sagten uns: Wir können nicht glauben, was hier passiert." Schließlich erhielten sie eine Aufnahmeerklärung von der deutschen Regierung und konnten am 18. November mit einem Visum nach Pakistan ausreisen.
Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre
Auch wenn Parwin und Ahmad nicht im Dienst der deutschen Regierung standen, gehören sie laut Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan zu den Menschen, die "wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte, ihrer Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten oder internationalen Organisationen oder aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung bedroht und verfolgt" werden. In Deutschland haben sie eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 2 des deutschen Aufenthaltsgesetzes bekommen. Darin heißt es: ‚Die Aufenthaltserlaubnis wird auf längstens drei Jahre befristet und kann auch über diesen Zeitraum hinaus verlängert werden, wenn die Gründe, aus denen sie erteilt wurde, weiterhin gegeben sind.‘ Sprich, so lange sich an der politischen und humanitären Situation in Afghanistan nichts ändert, können Parwin und Ahmad bleiben. Sie erhalten Sozialleistungen und dürfen arbeiten. Im Ausland erworbene Qualifikationen und Abschlüsse werden anerkannt. Kinder haben ein Recht auf Kindergarten- und Schulbesuch.
"Als wir endlich im Flieger saßen und von oben auf Kabul runterschauten, spürte ich große Erleichterung. Aber nicht nur das, auch Trauer." Ahmads Augen werden feucht. Er greift nach einem Taschentuch. Parwin ergänzt leise: "Wir mussten alles da lassen - unser Zuhause, unsere Freunde, Verwandten und unsere Karrieren. Wir konnten ja fast nichts mitnehmen, nur zwei Koffer." Bei der deutschen Botschaft in Islamabad beantragten sie ihre Papiere für die Weiterreise nach Deutschland. Zwei Wochen mussten sie warten, bevor sie mit einem Charterflug nach Leipzig kamen und von dort in eine Erstaufnahmeeinrichtung nach Viersen. "Als wir das gesehen haben, haben wir geschluckt und uns gefragt, wie lange wir hier wohl bleiben müssen", erzählt Ahmad, "die Zimmer sind winzig und die Wände dünn. Da hat man keine Privatsphäre." Zum Glück dauerte der Aufenthalt nur vier Tage.
Gute Nachbarschaft in Bottrop
Sie sind gut angekommen in Deutschland, haben eine kleine Wohnung am Rand von Bottrop bezogen. Mittlerweile ist ihr kleiner Sohn Altan geboren. Im Juni wird er ein Jahr alt. "Auf Deutsch bedeutet Altan ‚Morgenröte‘", übersetzt Ahmad. Ein Kind, das alle Hoffnungen seiner Eltern im Namen trägt. "Ich möchte nicht, dass er erlebt, was wir erlebt haben. 32 Jahre, unser ganzes Leben waren wir im Krieg", sagt Parwin. Nach Afghanistan zurückkehren kommt für sie nur in Frage, wenn dort wieder Frieden herrscht. Ahmad spricht Deutsch und Englisch, hat an der Ruhr-Uni-Bochum Wirtschaftswissenschaften studiert und ist 2016 nach Afghanistan zurückgekehrt. Viele seiner Mitstudenten haben das nicht verstanden. Wieso er nicht in Deutschland bliebe, wo er doch gute Aussichten auf einen Job und Karriere habe? "Ich wollte meinem Land etwas zurückgeben. Ich will dazu beitragen, dass unser Land befriedet wird", hat er geantwortet. Jetzt ist er unfreiwillig wieder zurückgekommen, geflohen vor den Taliban und einem Regime, das seiner Frau und ihm keinen Raum für Entfaltung lässt und keine Aussicht auf Frieden und Fortschritt birgt.
Dass Ahmad bereits Deutsch spricht, hilft dem jungen Paar, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Trotzdem sei es ein Kulturschock gewesen, sagt Parwin. Aber die Mitarbeitenden der Regionalen Flüchtlingsberatung des Bottroper Caritasverbandes und die Johanniter hätten ihnen sehr geholfen. Vor allem mit den vielen Formularen, die auszufüllen sind. Auch in der Nachbarschaft hat das junge Paar Freunde gefunden. Ein älteres Ehepaar unterstütze sie bei allem, so gut es ihnen möglich sei, berichtet Parwin. Wenn es ein Problem gebe, dürften sie dort jederzeit anrufen. Bei gegenseitigen Einladungen haben sie deutsche Vorlieben, wie Erdbeerkuchen und Kaffee, kennen und schätzen gelernt. Besonders gefreut haben sich Parwin und Ahmad über die Initiative einer Nachbarin, die die Geburtsanzeige von Altan im Anzeigenblatt entdeckt hatte und diese kurzerhand ausgeschnitten und mit einem "Welcome Altan"-Gruß in den Hausflur gehängt hatte.
Frauen leben wie in Gefangenschaft
Parwin Adabyar (32) ist mit ihrem Mann nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan geflohen, weil sie in ihrem Land nicht mehr sicher war. Foto: (Caritas | Christoph Grätz)Caritas | Christoph Grätz
Wenn Altan etwas älter ist, will Parwin für ihn einen Kindergartenplatz suchen, damit sie Deutsch lernen und wieder arbeiten gehen kann. So, wie auch in Afghanistan, bis die Taliban die Macht übernommen haben. "Die Frauen waren frei: Sie konnten zur Schule gehen, studieren, arbeiten, politisch aktiv sein, ein eigenes Unternehmen gründen, reisen, selbst entscheiden, wie sie sich kleiden", sagt sie.
Jetzt ist es Frauen unter Androhung von Strafe verboten, eine weiterführende Schule zu besuchen, zu studieren und mit Männern gemeinsam zu arbeiten. Auch für Hilfsorganisationen dürfen sie nicht tätig sein, was die Arbeit ausländischer Organisationen enorm erschwert. Frauen dürfen nicht ohne männliche Verwandtschaft reisen, keine öffentlichen Parks besuchen und nicht Sport treiben. In der Öffentlichkeit gilt der Zwang zur Vollverschleierung. Zuletzt sei der Verkauf von Verhütungsmitteln in Apotheken und Drogerien untersagt worden, berichtete die taz. Ein Leben, wie in Gefangenschaft. Für ihre Freundinnen, die in Afghanistan geblieben sind, sagt Parwin, sei das alles eine große Enttäuschung. Vor allem die alleinerziehenden Frauen stünden vor großen finanziellen Problemen. Das Arbeitsverbot treffe sie besonders hart.
"Die Menschen sind erschöpft"
"Ich erwarte, dass die internationale Staatengemeinschaft Druck auf Afghanistan ausübt. In unserem Land soll es Platz für alle Menschen geben, nicht nur für die Mullahs. Die Menschen möchten Freiheit", sagt Ahmad. Aber sind Massendemonstrationen, wie im Iran, in Afghanistan denkbar? Parwin berichtet von Protesten, die gewaltsam unterdrückt wurden: "Frauen, die auf die Straße gingen, wurden verhaftet und eingesperrt, Oppositionellen wird mit Gefängnis gedroht." "Die Leute haben Angst", sagt Ahmad, "seit über 40 Jahren leben wir im Krieg und an vielen Orten herrscht große Armut. Wenn man nichts zu essen und zu trinken hat, denkt man nicht über Freiheit nach. Die einzige Sorge ist: ‚Wie finde ich ein Stück Brot für meine Familie und mich?‘. Die Menschen sind erschöpft und frustriert."
Für Parwin sind die Frauen, die trotzdem demonstrieren, Heldinnen: "Sie stellen sich den Taliban mit ihren Kalaschnikows entgegen. So viel Mut haben die Männer nicht." Absprachen träfen sie über WhatsApp, Messanger, Facebook oder andere Kanäle. Ob das sicher oder gefährlich sei, wisse sie nicht, sagt Parwin. "Aber es ist schon öfter vorgekommen, dass ein Kanal abgeschaltet wurde. Dann habe ich Angst, wenn ich meine Familie und Freunde nicht erreichen kann."
Ahmad erinnert sich, dass bewaffnete Soldaten in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul oft auf der Straße einfach so die Handys der Männer kontrolliert haben - unter Androhung von Gewalt: ‚Ich bin Soldat, Du musst mir das zeigen!‘, hätten sie gesagt. Für Ahmad sind die Taliban keine Regierung. Eine Regierung habe Institutionen, es gebe Regeln. All das hätten die Taliban abgeschafft. Deutschland sei lange ein sehr guter Partner Afghanistans in Politik, Wirtschaft, Sicherheit, Entwicklungsarbeit und Frauenrechten gewesen. Deshalb hofft Ahmad, dass Deutschland jetzt den Druck auf die Taliban erhöht, "damit die letzten 20 Jahre des Aufbaus und die investierten Milliarden nicht umsonst gewesen sind".
Den Frauen eine Stimme geben
Parwin will vor allem, dass das Schicksal der Frauen nicht in Vergessenheit gerät: "Die afghanischen Frauen sind verstummt. Ich erwarte von Deutschland, die Stimme der Frauen in Afghanistan zu sein - der Frauen, die zur Schule gehen, studieren und arbeiten möchten, damit sie im Leben eigene Entscheidungen treffen können."
(Text: Nicola van Bonn)