Inklusions-Pionier Fred ZiebarthCaritas / Christoph Grätz
Die Caritas im Bistum Essen schult immer mehr Fachkräfte für das Thema Inklusion. Dazu gehört auch der Umgang mit Kindern, die als schwierig gelten. Sind Kinder mit herausforderndem Verhalten überhaupt in die Schule integrierbar? Bei einer gemeinsamen Fachkonferenz für Expertinnen der Familienberatung, Sozialen Arbeit an Schulen und Erziehungshilfe warb der Berliner Inklusions-Pionier Fred Ziebarth unter anderem für eine neue Fachdisziplin. Ein Gespräch über Grenzen und Chancen von Inklusion in der Grundschule.
Frage: Immer wieder klagen Schulverantwortliche, Lehrerinnen und Lehrer und auch Eltern von Mitschülern über verhaltensauffällige Kinder. Sie sprengen oftmals den Unterricht. Inklusion scheint hier an die Grenzen zu kommen. Was sagen Sie dazu?
Fred Ziebarth: Das ist wirklich ein Knackpunkt für inklusive Schule. Statt Kindern mit Problemen wirklich zu helfen, werden sie all zu oft mit Medikamenten ruhig gestellt, damit sie den Unterricht nicht stören. Gleichzeitig brennen immer mehr Lehrer aus. Wenn man Inklusion will, müssen die Rahmenbedingungen stimmen und damit meine ich nicht nur das Geld. Wenn wir die verhaltensauffälligen Kinder nicht weg schicken wollen, müssen wir lernen, anders zu denken. Inklusion heißt für mich zu fragen: Was können wir tun, damit das Kind bei uns bleiben kann? Geht das nicht, ist der Erhalt von Förderschule vielleicht eine Alternative - wobei eine wirkliche Lösung ist das auch nicht. Es ist oft nur eine andere Aufbewahrungsform. Eltern, Lehrern und vor allem den Kindern ist damit nicht geholfen.
Frage: Welche Bedingungen müsste es geben, damit solche Kinder integriert werden können?
Ziebarth: Die Leistungsvermittlung darf bei schwierigen Kindern nicht im Vordergrund stehen, sondern die psychotherapeutische Behandlung, also das Kümmern um die seelischen Problemlagen. Dazu muss das Personal vor allem viel mehr wissen über seelische Schwierigkeiten. Die strikte Trennung von Pädagogik, Sonderpädagogik und psychotherapeutischem Wissen ist überholt. Wir brauchen eine neue Fachdisziplin, die diese drei vereint. Diese Fachdisziplin sollte an alle Pädagoginnen und Pädagogen gerichtet sein. Darüber hinaus braucht es speziell therapeutisch geschulte Kräfte flächendeckend an den Schulen.
Frage: Was empfehlen sie denn Lehrern oder Eltern, wenn sie nicht mehr weiter wissen?
Ziebarth: Unterstützung suchen ist das beste Mittel. Allein kann man schwierige Situationen nicht meistern. Lehrern rat ich, sich zusammen zu schließen. Denn die Ausbildung muss sich ändern, sie muss zum Beispiel die eigenen Erfahrungen mit Problemen beinhalten. Auf dem Weg zu einer echten Teilhabe braucht es die richtige Unterstützung - für Kinder, Eltern und Lehrer. Anders geht es nicht.
Frage: Lehrerinnen und Lehrer sind wichtig im Inklusionsprozess. Wie kann man eine inklusive Haltung vermitteln?
Ziebarth: Ganz schwierig. Haltung ist geprägt von persönlichen Erfahrungen. Wenn ein Kind seine Probleme mit auffälligem Verhalten ausdrückt und auf eine Lehrerin trifft, die selbst ein ähnliches oder anderes Problem hat, mit dem sie sich noch nicht auseinander gesetzt hat, wird sie ihrer Erfahrung entsprechend reagieren. Und das ist meist nicht professionell. Wer aus dem Bauch heraus handelt, verschlimmert die Situation meistens noch. Das macht aber keiner mit Absicht. Es braucht jahrelange, kompetente Arbeit mit Lehrern, um Haltung im Alltag zu verändern. In meinem Berufsleben habe ich viele gut erreicht, manche ein bisschen und manche gar nicht.
Zur Person: Fred Ziebarth, Inklusions-Praktiker in Berlin, gehört zur Gründergeneration des gemeinsamen Unterrichts. 26 Jahre lang war er pädagogischer Koordinator an der Berliner "Fläming-Schule", einer Pionierschule in Sachen Inklusion. Er ist ausgebildeter Sonderpädagoge für Verhalten und Lernen, sowie Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche - und gerade frisch pensioniert. Mehr Infos http://www.fred-ziebarth.de/
Zum Projekt: Im Projekt "Inklusive Offene Ganztagsschulen im Ruhrbistum" bildet die Caritas im Ruhrbistum rund 80 Mitarbeitende von Caritas-Ganztagsbetreuungsangeboten fort. Kernanliegen ist es, ein weites Verständnis von Inklusion zu vermitteln und die Reflexion des eigenen Verhaltens anzuregen. Die Lehrer/-innen und Erzieher/-innen kommen aus Grundschulen in Bochum, Duisburg, Gelsenkirchen, Gladbeck und Mülheim. Sie nehmen drei Jahre lang regelmäßig an Fortbildungen teil. Hier geht es unter anderem um Themen wie Diskriminierung (und speziell rassistische Diskriminierung), Kooperation, Partizipation und immer auch um eine inklusive Haltung. Aktuell steht die vierte Fortbildung an, in der es um den Umgang mit herausforderndem Verhalten geht. Weitere Infos zum Projekt unter www.caritas.ruhr/inklusive-ogs Weitere Infos zur Tagung unter www.agke-essen.de
Das Interview führte Michael Kreuzfelder.
PI 79/2016 - Essen, den 2. September 2016